Wednesday, December 21, 2011

Der Ethnologe bleibt

Wenn Marburg zur Geisterstadt wird, ist entweder Semesterende, - oder Weihnachten.
Zu Weihnachten, wenn der Großteil der eigentlichen Bewohner nicht mehr zugegen ist, sich verflüchtigt, in bekannter Regelmäßigkeit das Weite, nämlich die Heimat, sucht. 
Es sind die Zeiten, in denen selbst die Oberstadt ihre klaustrophoben Züge verliert, in denen Parkplätze erstaunlich frei und das Hörsaalgebäude hell und leer ist.

Weidenhausen: Es ist still. 
Die Leere kommt so überraschend und berechenbar zugleich wie es die Ebbe am Meer tut; Straßen werden scheinbar größer, man bekommt einen Platz im Café oder im Oberstadtaufzug, der zuvor immense Lasten in die Höhe oder in die Tiefe beförderte.
Still ist es in den Seminaren, in der Phil-Fak oder in der Mensa, wo man nun sogar zur Rush Hour vollkommen bequem daherkommen und speisen kann, ohne dass man lange Warteschlangen oder Nahrungsengpässe befürchten müsste. 
Die Lichter im Studentendorf werden immer wenigere. 
Einige Studenten haben bereits vor einer Woche die Stadt verlassen, tagtäglich folgen ihnen weitere; man erkennt sie an den großen Rucksäcken und der üblichen vorweihnachtlichen Hektik, die ihnen im Gesicht geschrieben steht. 
Vielleicht ist gerade das das Fabulöse an Weihnachten; dass so vielen das Gleiche geschieht. 

Der Ethnologe hingegen hält sich zurück. 
Er stürmt keine Busse oder Züge. 
Er bleibt, bleibt bis zum 23. Dezember, mehr aus Neugierde als aus Pflichtbewusstsein.
Denn am Freitagmorgen um 8.30 Uhr finden noch Veranstaltungen statt, Veranstaltungen mit Anwesenheitspflicht, was man an dieser Stelle als unmenschlich oder als Herausforderung sehen kann. 

Der Ethnologe bleibt, nicht aus purem Strebertum. 
Sondern weil es ihn brennend interessiert, wer - außer ihm - am 23. Dezember um 8.30 Uhr in eine Vorlesung geht. Und ob diese anders verlaufen wird, weil am nächsten Tag Geschenke getauscht und Braten gegessen wird. 
Und gerade das ist doch der Trumpf der Geisteswissenschaften; dass man sie nämlich zu jeder Zeit an jedem Ort (gedanklich) anwenden kann, und dass die Neugierde die Faulheit besiegt ...  Bis sich schließlich auch der Ethnologe aus traditionell-familiären Gründen zurückzieht und das Weite, die Heimat nämlich, sucht. 

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