Tuesday, March 20, 2012

Der kleine Unterschied

Zu Vielem ist der Mensch im 21. Jahrhundert fähig. 
Wale können wir retten. 
Und Atome spalten. 
Wir rasen in Autos über den Globus, andere Menschen fliegen uns hinterher. 
Manchmal sind Einzelne von uns im Orbit unterwegs, schrauben an riesigen Flugobjekten herum, während Satelliten um die Erde kreisen, damit wir mit Hilfe eines Navigationssystems von Butzbach nach Wetzlar finden.
Wir sagen das Wetter voraus und stehen mit Menschen in London, New York, Tokyo oder Buenos Aires in Kontakt, als wohnten sie um die Ecke. Wir können mit ihnen telefonieren, können sie hören, können sie sehen, und wohin wir auch laufen, - wir sind online

So viele Überraschungen der scheinbar grenzenlosen Mobilität hält der Mensch sich selbst bereit, dass die wenigen Dinge der Unmöglichkeit zu phantastischen Träumen führen.
Zu Grübelei. 
Apollo 17: Die Welt will gesehen werden
Und zu Unzufriedenheit. 
 

Das Paradies nämlich, so scheint das menschliche Erlebnisparadoxon, ist immer dort, wo man gerade nicht ist, wo man nicht sein kann. 
Aber auch wenn wir die Zeit noch nicht bereisen können, können wir doch die Welt sehen.
Gut also, dass wir im 21. Jahrhundert den Ort so schnell wechseln können. 

Die Semesterferien sind die studentische Gelegenheit im universitären Jahr, Zeit zu nutzen, Orte zu wechseln und Gelerntes (oder Vermutetes) zu prüfen. 
Im Rahmen einer Exkursion, zum Beispiel. 

Denn man kann weit reisen; und über den Menschen lernen. 
Und man kann tief reisen; und über den Menschen lernen.
Der kleine Unterschied, der unsere Augen größer macht, unsere Fragen keimen lässt und unsere touristische Selbstverständlichkeit, mit der wir den Tag begannen, schrumpfen lässt, treibt uns weiter, treibt uns fort von der Haustür, treibt uns hinaus, treibt uns nach Ungarn.
Ja, nach Ungarn; eine nicht ganz so weite Reise, dafür wird sie tief sein.

Was hinter dieser Reise steckt, wohin sie uns bringt, auf welche Sehnsüchte und Unterschiede wir stoßen, - dies und vieles mehr wird ab April Thema dieses Blogs sein.  

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Bildnachweise: Die Erde gesehen von Apollo 17: www.wikipedia.org

Vom Wünschen

Das menschliche Leben besteht aus vielerlei Dingen.
Es besteht aus Thai-Food, aus Iphones, aus Jetlags und vielleicht aus ECTS-Punkten.
Aus den Lahnwiesen im Sommer und aus oberstädtischem Glatteis im Winter, es besteht aus Hochwasser im Frühling und aus Kastanienigeln im Herbst.
Es besteht aus anderen Menschen, aus Bekanntschaften, aus Enttäuschungen, aus Hoffnungen, aus Bestätigungen. 
Und aus Wünschen.

Aus Wünschen, die uns ein ganzes Leben lang am Leben halten, die uns antreiben, - und manchmal forttreiben.
Wünsche, die wir äußern, und die wir für uns behalten. 
Wünsche, die in Erfüllung gehen.
Und jene, die es nicht tun. 
Wir wünschen unmittelbar oder für lange Zeit, wünschen unüberlegt oder in fiebriger Vernunft.

Der Student, so könnte man vermuten, wünscht sich längere Ferien, wärmeres Wetter und eine Erlenring-Mensa, von der es nur ein paar Schritte bis zum Strand sind.
Dinge also, die er nicht beeinflussen kann, Dinge der Unmöglichkeit, denn Marburg liegt nicht am Meer. 
Deshalb wünscht sich der gemeine Marburger Student vielleicht eher, nach dem Studium der Geisteswissenschaften einen Job zu bekommen. 
Kein Ding der Unmöglichkeit, und doch eine Herausforderung.
Aber auch das wünscht er sich in diesen Tagen nicht.
 
Die wenigsten unserer Wünsche werden Wirklichkeit.
Würde man alle Wünsche, die ein Mensch in seinem Leben äußert, tatsächlich zählen, und würde man diese in erfüllte und unerfüllte Wünsche aufteilen, - so wäre das Ergebnis wohl ernüchternd.
Und doch schreckt es uns nicht ab; es hält uns nicht vom Wünschen ab. 
Auch, wenn wir größer und älter werden; auch, wenn der Satz: "Ich wünsche mir nichts, ich kann mir doch alles selbst kaufen" ab einem gewissen Alter immer häufiger fällt.
Und auch wenn die Statistik uns vermuten lässt, dass auch einige unserer zukünftigen Wünsche nicht erfüllt werden können. 

Der Marburger Student wird sich in diesen Tagen und in kommenden Semestern einiges wünschen; er wird von einer Lehre träumen, die nicht finanziell beschnitten ist, eine Lehre, deren Qualität konstant und hoch ist; eine Lehre, die weder Schauplatz politischer Interessen noch das vergessene Lieblingskind eines Bundeslandes ist.

Der Student wird von der Vergangenheit träumen, vom Wintersemester 2011 / 2012 vielleicht, als die Mittel und die Möglichkeiten einer guten Lehre noch bestanden.

Von Bitterkeit begleitet ist der Gedanke an die Zeit, die nun kommen mag; denn auch wenn es Sommer wird, verschwindet doch gerade jetzt die finanzielle Sicherheit, die das Leben hier so schön machte. 
Der Marburger Student denkt an die Liste erfüllter und unerfüllter Wünsche und fragt sich, in welche Sparte wohl die durch Mittelkürzungen entstandenen Wünsche einer guten Lehre und guter Lehrbedingungen fallen werden. 

Friday, March 16, 2012

Bleibt alles anders

Wenn man die meiste Zeit des Jahres an einem Ort verbringt, kann es passieren, dass die Reise an andere Orte befremdlich scheint.
Befremdlich, denn eher unbewusst hat sich eine kleine Stadt im Herzen Hessens in den Vordergrund meines Daseins gerückt, - und unbewusst oder bewusst ist jede andere Stadt dem direkten Vergleich mit Marburg ausgesetzt.
Seit eineinhalb Jahren wohne ich in Marburg, in einer Universitätsstadt.
Und weil eben das der Fall ist, muss selbst Bochum, eine andere Universitätsstadt, muss Bochum, diese Stadt, aus der ich komme, den direkten Vergleich mit einer sehr viel kleineren Stadt antreten, - und die Tatsache hinnehmen, dass selbst sie, die Heimat, zu einem Stadtstatisten auf meiner Deutschlandkarte geworden ist.

Bochum: Beton, Tauben und Herbert-Knebel-Doppelgänger
Ich komme an einem grauen Sonntag hier an, und die Farbe des Himmels passt wohl zu dem Bild, das die meisten Menschen von einer Stadt im Ruhrgebiet haben.
Im Ruhrgebiet, dem größten urbanen Ballungsraum Europas, sieht alles immer ein bisschen improvisiert, hingekleckst und vergessen aus. Hier wird die Wäsche schwarz anstatt zu trocknen. Hier sehen acht von zehn Menschen wie Herbert Knebel aus.

Dabei ist es hier gar nicht so wie alle denken.
Es ist anders; auch für mich.

In den kommenden Tagen ertappe ich mich selbst dabei, wie ich Entdeckungen mache, mit denen ich nicht gerechnet habe. Das Gefühl stimmt noch immer; doch das Auge sieht etwas anderes.
Nach neunzehn Jahren, die man in ein und derselben Stadt verbracht hat, ist es ein leicht gedachter Gedanke, alles bereits zu kennen. 
Die Stadt aber – und gerade das Ruhrgebiet – ist ständiger Veränderung ausgesetzt.

Einen kleinen Kulturschock habe ich, hier in Bochum, während ich mir bekannten Wegen und Straßen folge, mir bekannte Gesichter treffe und beinahe automatisch einen vergessenen Trott übernehme, der mich in meine Schulzeit zurück versetzt.
Ein Kulturschock, denn alles hier ist größer; alles hier ist flach, ist Beton und Stahl und weiter Himmel und doch grüner als die Erinnerung es erinnerte - und doch anders. 

Das Hessen gewohnte Auge staunt.
Ich hatte nicht erwartet, dass auch hier die Welt sich weiterdreht, dass auch hier die Dinge sich ändern, dass ich mich verändere, - so dass einstige Selbstverständlichkeiten mit einem Male fremd sind.
Und ich wundere mich.
Über die Gegend, aus der ich komme.
Über die Gegend, in der ich nun wohne. 
Über Gewohnheiten und übers Vergessen. 

Und vermutlich ist es nur der Lauf der Zeit, vermutlich ist es ganz normal, sich zu entfernen und zurückzukehren; und doch wird es langsam nicht mehr ganz so einfach, nach Hause zu kommen. 

Thursday, March 8, 2012

Marburg im Frühling


Der Frühling kommt und macht Marburg zur schönsten Stadt der Welt; denn die Idee einer wärmeren Jahreszeit lässt uns frohlocken, lässt uns durch die Ober- und Unterstadt treiben und beinahe haben wir gar nicht mehr gewusst, dass es tatsächlich Zeiten gibt, in denen sich der Nebel lichtet, Zeiten, in denen wir keine Jacken tragen müssen, Zeiten, in denen die Luft nach Veränderung riecht.

Der Frühling steht dieser Stadt so unendlich gut und ist die willkommene Abwechslung eines langen und tiefen Winters. 
Eines langen und tiefen Wintersemester, - das nun vorbei ist. 
Das Wintersemester, mit seinen unzähligen Schrecken in Form von Klausuren, Referaten und frühem Aufstehen zu Zeiten, in denen die Welt um uns noch dunkel war und es schien, dass der Rest von uns noch schlief. 

Wie zu jedem Beginn einer neuen Jahreszeit, scheinen uns die Vorzüge der Vergangenen belanglos. 
Wer möchte Weihnachten feiern, jetzt, wenn alles danach aussieht, grün zu werden. 
Wer möchte Schlittschuh laufen, wenn man auf den Lahnwiesen bereits annähernd in den Genuss einer wärmenden Sonne kommen kann. 
Wer möchte Plätzchen essen, jetzt, wenn man doch genau so gut Eier färben kann. 

Die noch andauernden Ferien sind kürzer als wir dachten; sie enden in den Osterfeiertagen und die liegen bereits in beschaulicher Nähe. 
Doch es stört uns kein Bisschen.
Auch, dass mit dieser wärmeren Zeit ein neues Semester beginnt, schreckt uns nicht ab; ein neues Semester, mit Klausuren, Referaten und Hausarbeiten. 
Mit einer Europameisterschaft und Olympischen Spielen. 
Ein Grill-Semester. 
Ein Semester, das kürzer und schneller vergeht als der lange Winter. 
Ein Semester mit Ferien, die gefühlt ein halbes Jahr dauern. 

Und doch ist dies alles nichts gegen das Hochgefühl der ersten Frühlingstage; nichts gegen die Vorfreude und die Verwunderung, wenn der Mensch aus seinem Winterschlaf erwacht und fest stellt, dass die Welt ihm stets Neues und doch Vertrautes bietet. 

Thursday, March 1, 2012

So richtig in Cappel

oder: Lerne deine Stadt kennen

Der großstädtische Student, den einzig der Wissenserwerb aus der Heimat und nach Marburg trieb, beschwert sich gerne mal über diese kleine Stadt in Hessen.
Über klaustrophobe Gassen und zu wenig Zentrum. Über zu viel außerhalb und zu wenig innerhalb. Über Langeweile und Großstadtgelüste, über Stille und Nachbarsgeflüster.
Der überzeugte Wahlmarburger hingegen, beantwortet all diese empörten Beobachtungen mit einem Lächeln.

Natürlich. Marburg ist nicht groß. Aber das muss es ja auch gar nicht sein.
Neblig ist es hier bei Zeiten und trostlos kann es sein am Bahnhof.
Das ist es aber überall.
Auch in Berlin. Auch in Bochum. Auch in Köln oder Frankfurt.

Und vorsichtig sollte man sein, eine Stadt mit lamentierendem Gesicht als klein zu bezeichnen.
Denn auch eine Stadt wie Marburg kann auf einmal ganz groß werden.

Cappeler Nachtimpressionen:
Es ist dunkel.
Ich war noch nie in Cappel.
Also, so richtig in Cappel.

Am Südbahnhof? Ja.
Im Stadtbüro? Ja. (Dafür gibt es Zeugen)
Im Kult? Ja.
Aber in Cappel?
Nein.

Ich habe eine ungefähre Ahnung, wo dieser Stadtteil liegt. Vom Schloss aus hat man einen guten Blick bis nach Cappel.
In Cappel sieht man das Schloss aber nicht mehr. Das Schloss, von der Oberstadt umgeben wie ein sorgsam gebautes Vogelnest aus Stein und Fachwerk, - es ist weit und weg.
Und es ist dunkel hier.
Die letzte Leuchtreklame, an die ich mich erinner, gehörte zu einem Diskounter.
Zehn Minuten Fahrt seit dem.
Durch Cappel.

Es ist still hier, ruhig und dunkel. Wir verfahren uns, biegen in einsame Straßen ein und wie im Erzgebirge geht es rauf und runter.
Auch hier stehen vereinzelte Fachwerkhäuser, die uns erinnern, dass wir in Marburg sind. Weite Felder liegen direkt neben der Straße.
Wenn die Busfahrer streiken, so wie am Montag, braucht man mit dem Fahrrad eine halbe Stunde bis zum Südviertel. 
Wir sind beeindruckt. Und schweigen. 
Wer denkt, Marburg sei klein, hat Cappel nicht gesehen.