Sunday, April 22, 2012

Im Zeitraffer

Die Arbeit des Ethnologen ist vielseitig, genau so wie sein Interesse.
Ihn interessiert alles und bei Zeiten nichts anderes als das. 

Und es ist schwer, all dem gerecht zu werden; vor allem auf der ersten Feldforschung, die wir in unserer noch jungen Ethnologenlaufbahn bestreiten.
Aber wir verstehen, in all dem Tohuwabohu und der knapp bemessenen Zeit ganz genau, worum es geht. 

Nämlich ums Neugierig-Bleiben. 
Ums Nachfragen. 
Ums Wundern, ums stete Wundern.
Auch wenn wir nach wenigen Tagen Nyirbator und schließlich Ungarn im Nachtzug wieder verlassen, haben wir Ethnologen-Luft geatmet, haben gerätselt, sind auf der Stelle getreten, haben erfahren, gelebt und verstanden. 

Und wir wundern uns noch immer.
Wir hören nicht auf, und das für immer. 

Denn es gibt noch immer Dinge, die es zu beobachten, zu hinterfragen oder zu belächeln gilt. 
Nicht aus Unruhe, nicht aus Argwohn oder Spott; sondern aus aufrichtigem Interesse am menschlichen Geschehen. 

Eineinhalb Jahre – in Blogs gerechnet: drei – sind nun schon vergangen, eineinhalb Jahre, in denen so viel gewälzt, beobachtet, erzählt und geschrieben wurde. 
Eine Zeit, die vielleicht gerade wegen des steten Bloggens und der vielen Geschichten so schnell vorüber ging.

Geschichten, die jedem von uns widerfahren sind und können; die dem einen vielleicht vertraut und dem anderen phantastisch erschienen sind.
Und doch waren sie gewiss nachzuvollziehen - auch wenn sie nur Gedanken waren. 

Geschichten, erschienen auf diese Weise und in diesem (Blog-)Rahmen, wird es jedoch vorerst nicht mehr geben. 
Allen, die die Reise bis hierhin mitgemacht und der Ethnologie eine Chance gegeben haben, sei aufs Herzlichste gedankt. 
Für Feedback, für Möglichkeiten, für Gedanken, und manchmal auch für Aufregung.  

Es war vor allem eine schöne Zeit. 

Thursday, April 19, 2012

Mit Kek Lang im Wohnzimmer Teil II

Pina Bausch war schon hier, hier, in diesem Wohnzimmer.
Wie wir hat sie hier gesessen, hat gestaunt und gelauscht, und gelacht, denn so wehleidig, traurig und ergreifend die Lieder der Familie Kek Lang sein mögen, so herzlich und voller Freude über unser Kommen sind doch ihre Gesichter.
Ein Lied nach dem anderen singen sie und ein jedes ist ein Geschenk.

Und während wir dort sitzen, erscheint uns unsere Arbeit immer unwirklicher, denn so viel Zeit haben wir schon mit Warten verbracht, und nun erleben wir intensive Momente, die wir kaum beschreiben können. 
Unser verzweifeltes, hochschulgepoltes Strukturdenken, unsere Suche nach der Theorie in der Praxis, - das alles erscheint uns mit einem Male überflüssig, pedantisch, und wir müssen über uns selbst lachen. 
Denn der Inhalt unserer Studien ist der Mensch, und der Mensch wird erst zum Menschen durch die Begegnung und den Kontakt mit anderen.
Beinahe lächerlich scheint da der Gedanke, Konstrukte zu erstellen und ernsthaft mit angestrengtem Gesicht und sich runzelnder Stirn über das nachzudenken, was sich nur in der Begegnung offenbart.

Wir sind verzaubert.
Mit jedem neuen Lied, mit jedem Lächeln, mit jeder Antwort auf die Fragen, die wir stellen.
Diese Fragen, die zunächst auf Französisch übersetzt werden und von Marika auf Ungarisch übersetzt werden, sind schon gar nicht mehr so wichtig. 

Denn so groß die Sprachbarriere zwischen diesen Menschen und uns, den anderen Menschen, sein mag, so gering ist sie doch jetzt, in diesem Moment, in dem wir hier sind und in dem wir spüren, was Leben für sie bedeutet. 

Ethnologen sind Menschen, die sich in anderer Menschen Wohnzimmer setzen, ihre Kamera auspacken, und Lieder aufnehmen. 

Mit Kek Lang im Wohnzimmer Teil I

Wir verlassen Nyirbator im Auto und fahren in ein etwa 10 Kilometer entferntes Dorf. 
Hier, so berichtet Marika uns während der Fahrt, lebt eine Roma-Band, eine Familie. 
Sie nennen sich Kek Lang, und sind bereits in mehreren Filmen aufgetreten.  

Noch sind wir vollkommen eingenommen von den Begegnungen des Vormittags, so viel unerwartete, unvorstellbare Praxis, die sich nach einer Woche der Theorie versteckte. 
Wir wollen unsere Gedanken, unsere Beobachtungen aufschreiben, doch wir haben keine Zeit, und so oder so können wir nicht so schnell schreiben, wie wir wollen.


Miklos vor seinem Haus
Wir biegen in eine Straße ein, die eher einem Feldweg gleicht. Sand treibt über ein angrenzendes Feld und die Kulisse erinnert an einen Western. 
Wir sind im Romaviertel des Dorfes, am letzten Haus der Straße hält Marika.
Miklos wohnt hier, Miklos, der Älteste der Kek Lang-Familie.

Als wir das kleine Haus betreten, werden wir so herzlich empfangen, als seien wir die lang verschollenen Söhne und Töchter der Familie. Nach fünf Minuten halten wir Schnaps und Kaffee in den Händen, ein kleiner Tisch ist zum Bersten beladen mit gefüllten Paprikas, Fleisch und Kuchen. 
Miklos steht in der Tür. 
Man sieht ihm seine mehr als 80 Jahre an, doch in der Hand hält er seine Bratsche wie eine Trophäe, ein Artefakt, das aus ihm einen Künstler macht. 
Als wir uns setzen wollen, schütteln die etwa acht Menschen um uns wild die Köpfe. 
Nein, nein, nein, wir gehen doch jetzt ins Wohnzimmer nach nebenan, nach nebenan, da wird jetzt Musik gemacht!
Sie lachen. 

Ein bisschen perplex verlassen wir Miklos Haus und folgen der Straße zum übernächsten Haus. Alle, die hier wohnen, sind miteinander verwandt. 
Wir betreten ein buntes Wohnzimmer, werden auf Stühle gelotst, wir bekommen einen neuen Schnaps, schütteln neue Hände, sehen neue Gesichter, hören neue Geschichten und verzweifelt versucht man, uns den Familienstammbaum zu erklären.
Was wir uns merken können: alle hier sind mit Miklos verwandt. 
Einige von ihnen heißen sogar so. 

Und dann beginnen sie bereits, zu singen. 
Ein jeder von ihnen hält irgend ein Instrument in seinen Händen, einige singen hohe Töne, andere singen tiefe Töne. Einige Frauen stehen da, beobachten uns und wenn wir nicht aufpassen, schenken sie uns Schnaps nach. 
Immer mehr Menschen kommen in das Haus von Miklos Sohn. Sie kommen, stellen sich in die Tür, steigen ohne Probleme in die Lieder mit ein, rufen, heben die Hände, tanzen. 
27 Menschen sind es schließlich, die diese Musik hier mit uns leben, das Thermometer im Wohnzimmer der Kek Lang-Familie zeigt 33 Grad an.

Die deutsche Art zu tanzen

Wir erreichen Nyirbator, unser ungarisches Feld, am frühen Abend. Wenn wir es nicht besser wüssten, könnten wir diese Stadt an der unagrisch-rumänischen Grenze für ein französiches Dorf halten. Marika, unsere Kontaktperson, holt uns vom Bahnhof ab. Sie spricht Französisch, - ungeachtet der Tatsache, dass wir kaum im Stande sind, ihr zu antworten oder sie gar zu verstehen. 
Im alten Kloster Nyirbators kommen wir unter. Wurstbrote wurden geschmiert und aufs Neue hören wir die sagenhafte Geschichte vom erlegten Drachen. 

Nyirbator: Ein bisschen Frankreich in Ungarn
Bereits am nächsten Morgen stehen wir um sechs Uhr frierend im Kreuzgang.
Denn es ist Ostern und die gläubigen Ungarn bringen ihre Osterkörbe, um die Brote, das Fleisch und den Käse segnen zu lassen.
Doch es ist nicht nur Ostern, es ist auch der Internationale Tag der Roma. Und aus diesem Grund findet am späten Vormittag ein Begrüßungskonzert der Gipsies für uns statt. 

Wir sind nervös, als wir durch Nyirbator fahren und schließlich vor dem Kulturzentrum der Roma Halt machen; hier, und jetzt, beginnt das Feld.
Noch immer können wir keine der Sprachen sprechen, die sie sprechen. Wir müssen uns in unserer Verständigung ganz auf unsere Hände, auf unser Lächeln und unsere Augen verlassen; schüchtern und ein bisschen ungelenk sitzen wir da, im Kulturzentrum, schütteln Hände, lächeln verlegen, uns gegenüber sitzen die jugendlichen Roma und wieder wissen wir nicht genau, wo wir beginnen sollen. 

Die Roma wissen es. 
Ein Vater und seine Tochter stehen auf der Bühne; sie singen die Hymne der Roma, heute am Internationalen Tag der Roma. 
Und man kann von Hymnen denken und halten, was man will, doch es ist wohl dieser Moment, es sind wohl diese zwei Minuten, die die Starre von uns lösen, die Gänsehaut entstehen lassen und Schüchternheit vergessen machen, denn selten haben wir ein so stolzes, so schönes und so trauriges Lied gehört.
Beinahe hatten wir vor lauter Theorie die Menschen vergessen, wegen denen wir hier sind.

Schnell spielt eine Band nach der anderen, die Jugendlichen tanzen in ihren traditionellen Kleidern, wir staunen, machen Videos, bekommen erneut Gänsehaut, vergessen die Theorie  und beginnen, mit ihnen zu tanzen. 
Zunächst langsam und ein bisschen unrhythmisch, aber nicht weniger unterhaltsam, denn sie lachen über uns. 
Über uns, die komischen Deutschen, die ihre Füße nicht zu bewegen wissen wie sie, die komischen Deutschen, die noch eben wie die Hühner auf der Stange saßen und nun in merkwürdiger Haltung und mit fremden Bewegungen tanzen. 
Und doch halten wir uns an den Händen, einige der Mädchen kichern, sie sehen nicht älter aus als 14, ihre Körper bewegen sich im Takt und wir kommen uns noch staksiger vor, doch wir tanzen.  

Als Marika uns erklärt, wir müssten nun gehen, sind wir aus der Puste und verstehen nicht genau, wohin wir fahren. 
Wir wollen weiter tanzen, denn deshalb sind wir schließlich hier.  
Mittlerweile lacht man nämlich auch nicht mehr so sehr über unsere Art zu tanzen, sondern lächelt uns zu. 

Sunday, April 15, 2012

Musik, Schnaps und fehlende Worte


Ethnologen sind Menschen, die wissen, wo und wie man beginnt.
Da wir uns noch in der Ausbildung befinden, brauchen wir ein wenig Zeit, - ewas mehr Zeit, als wir selbst dachten. 
Und so wälzen, verwerfen und nehmen wir in den kommenden Tagen Fragen und Gedanken auf, und treffen immer wieder ungarische Musiker und Anthropologen, um mit ihnen unserem Thema näher zu kommen. Sie halten kleine Reden, erklären uns die Instrumente, die sie mit sich tragen, spielen auf ihnen, wir stellen Fragen und erhalten Antworten, die neue Fragen und Gedanken auslösen.
Ungarn unlimited: Länderkunde spezial
Wir sind gefangen in einem Netz von Vermutungen, Bestätigungen und falschen Vorstellungen; Begeisterung löst Ratlosigkeit ab und so schön die Abende doch sind, an denen wir diskutieren, singen, trinken, so kopflastig und theoriebeladen sind wir doch zur gleichen Zeit. Die Qualität unseres Ungarisch ist nach wie vor von bescheidener Natur und so nah wir der Kultur sind, so groß ist doch die Sprachbarriere. 
Ein Tablett mit Schnaps geht um und wir husten und lutschen Bonbons.
Als wir uns auf den Heimweg machen, verlaufen wir uns; irgendetwas haben wir uns anders vorgestellt.

Doch all die Irrungen und Wirrungen theoretischer Anschauungen und großer Überlegungen enden am kommenden Samstag, dem Tag, an dem wir uns auf den Weg ins tatsächliche Feld machen. 

Unser Feld liegt in Nyirbator, einer ost-ungarischen Kleinstadt nahe der Grenze zu Rumänien.
Dort, so verriet man uns, gebe es nicht nur viele Gipsies, dort sei es auch kalt, unter 0 Grad, einen Drachen habe man einst getötet, in Nyirbator.
Wir können uns nichts von all dem vorstellen; es ist, als versuche man, sich einen schwarz-weiß-Film in Farbe vorzustellen.
Deshalb warten wir auf den Moment, warten mit unseren Fragen auf Antworten.  
Mit einem rumpelnden Intercity verlassen wir Budapest und rauschen über Dörfer, Städte, Wiesen und Felder, durchqueren die halbe Republik, sehen die Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen einer Hauptstadt und den Dörfern.
Die Fragen in unseren Köpfen stehen in unseren Feldnotizen an oberster Stelle und manchmal wundern wir uns über das, was geschieht.

Denn wir sind nun die Menschen aus den Büchern, die in die Kultur eintauchen, die suchen und versuchen, die Fragen stellen, die entdecken, und die manchmal scheitern.  

Thursday, April 5, 2012

Theorie und Praxis: Das Ethnologie-1x1

Eine Feldforschung zu unternehmen, ist fester Bestandteil der Ethnologie und bewährter Vorgang zum Verständnis einer Kultur. 
Empfohlen wird, mindestens ein Jahr lang an einem Ort zu sein, um Menschen und Gewohnheiten kennen zu lernen, um vertraut zu werden und zu sein, um zu verstehen. 
Schon im ersten Semester wird der angehende Ethnologe mit Begriffen der Teilnehmden Beobachtung und mit Erzählungen von Malinowski, Levi-Strauss oder eigenen Dozenten konfrontiert und auf diese Art der Kulturerschliessung vorbereitet. 

All dies war uns so geläufig; es ist das 1x1 der Ethnologie. 
Und auch, wenn wir uns nicht verrechnen, müssen wir es doch hier, in Ungarn, noch einmal durchgehen.
Wir wissen, dass wir nicht vorpreschen sollen in das Leben anderer, wir wissen, dass der Mensch sensibel ist und dass wir einfühlsam sein sollen.
Wir wissen, dass man eine Feldforschung vorbereiten und planen kann, und dass sie im Endeffekt doch ganz anders verlaufen kann, - dass sie sogar fehlschlagen kann.
Wir wissen, dass die Besonderheiten in den kleinen Dingen liegen können und dass wir vieles oft nicht sehen. 
Wir wissen, dass wir fragen sollen, dass wir nie aufhören sollen, neugierig zu sein.
Aber in diesem Moment sind wir diejenigen mit dem für alle sichtbaren Fragezeichen über den ratlosen Köpfen.  

Denn all das ist Theorie und wir stehen nun hier und sind ein bisschen unschlüssig. 
Unschlüssig, denn so viel haben wir in drei Semestern gelesen und so einfach wir die gelesenen Seiten hinter uns liessen, so sehr verstehen wir doch jetzt, wie viel Arbeit hinter einer jeden Seite steckte. 
Es ist wie bei einer Gleichung, die uns in ihrer Lösung vollkommen einleuchtend erscheint. Doch jetzt, wo wir am Zuge sind, ist uns bereits die kleinste Variable unbekannt und das Herangehen - geschweige denn das "Lösen" - fallt uns schwer. 
Vom Lösen müssen wir uns generell verabschieden. 
 
Doch der Respekt vor unserer Aufgabe wächst und wir wissen nicht, wo wir beginnen sollen. 
Während wir uns gestern noch in touristischer Manier auf Budapester Pflaster bewegten, sind wir heute, keine vierundzwanzig Stunden später, eingetaucht in eine Welt, in deren unsichtbar gesponnenen Fäden wir uns verstricken und verheddern.  

Kultur ist ein Eisberg; nur 20 % sind sichtbar, und sagenhafte 80 % liegen versteckt unter der spiegelglatten Oberfläche des tückischen und fabelhaften Kultureismeeres. 
Was wir vorher bereits wussten, wird uns nun aufs Neue deutlich, und auch wenn wir uns ärgern, ist es nötig, ein weiteres Mal die Kluft und die Verbindung zwischen Theorie und Praxis zu verstehen.

Viel Geld und scharfes Essen

Den ersten Tag unserer Exkursion verbringen wir in Budapest. 
Unser Dozent hat die Kontakte, die uns noch fehlen, doch sie kommen uns gelegen, denn im Atelier einer befreundeten Kűnstlerin können wir unser Gepäck ablegen und uns die Stadt erschliessen. 
Budapest: Wie Madrid. Nur anders.
Auf unsere Müdigkeit nehmen wir selbst schon bald keine Rücksicht mehr, denn die Hauptstadt Ungarns ist so anders und so vertraut zugleich. 

Neugierig schlendern wir durch die Strassen, essen Eis, stöbern durch kleine Läden, bestellen ungarisches Essen und verbrennen uns die Magenwände, denn man isst hier gerne scharf. Die Sonne scheint und schnell stellen wir fest:
Hier ist es wie in Madrid. 
Nur anders.

Anders ist zum Beispiel die Sprache.
Diese Sprache, die wir nicht verstehen können. 
Es ist schon lange her, dass wir in einem Land waren, in dem wir nichts verstanden haben. 
Kein Wort, weder geschrieben noch gesprochen, kann irgendwie erkannt werden. 
Alles klingt so, als würden Laute verschluckt, und während wir uns in touristischer Erklärungsnot ins Englische flüchten, winken die Ungarn ab, lächeln und verstehen uns doch irgendwie. 
Sie kennen das. 
Sie verstehen auch, dass wir mit ihrer Währung ein Problem haben; denn es sind hohe Zahlen, mit denen man in Ungarn rechnet, wir müssen alles durch 30 teilen, haben 10000er-Scheine in den Händen, die viel zu schnell verschwinden und sich in Kleingeld auflösen, in 500 oder 200 Forint. 
Wir sind langsam und während wir umständlich mit den Scheinen hantieren, rechnen, uns verrechnen, von Neuem anfangen, und über Pennymärkte und deutsches Hasenfutter stolpern, geht ein ganzer erster Tag zu Ende. 
hier Buda, dort Pest

Schliesslich sitzen wir wieder in einem Zug, der uns nach Velence bringt, einem Vorort, wo wir übernachten werden. Aufs Neue helfen uns Freunde unseres Dozenten, und ihre Hilfe erleichtert uns vor allem das Ankommen in diesen Tagen.
50 Minuten brauchen wir, um den Stadtkern zu verlassen, denn Budapest ist gross und besteht aus mehr Stadtteilen als Buda und Pest. 

Als wir unser Hotel betreten, müssen auch wir unser Bild von Feldforschungen, von Ungarn und von Studententarifen revidieren; wir hatten nicht mit einem Swimmingpool und Einzelzimmern mit Bad, Doppelbett und Seeblick gerechnet. 
Dankbar fallen wir in die Betten und beginnen den nächsten Tag mit den ersten vorsichtigen Schritten im ethnologischen Feld.

Nachtzug nach Budapest

Budapest-keleti pu
Was der Ethnologe studiert, muss er auch sehen. 
Und was er sieht, muss er verstehen. 
Deshalb studiert er.
Damit Ethnologie und Anthropologie also keine leeren Hűllen sind, theoretische Gebilde ohne Substanz, zieht es uns an diesem Montagabend in die Ferne. 
In die ungarische Ferne. 

Im Rahmen eines Seminars haben wir uns im vergangenen Semester mit ungarischer Musik beschäftigt. Und mit Zigeuner-Musik. 
Und da fängt das Problem an, das wir haben, sobald wir berichten wollen. 
Denn "Zigeuner" ist eines dieser Worte im Deutschen, bei denen wir ein komisches Gefűhl haben, eines dieser Worte, die wir lieber umgehen, die wir lieber irgendwie beschreiben, umschreiben - und doch nicht so genau wissen wie. Nicht alle sind Sinti und Roma, nicht alle bezeichnen sich als solche und gerade als Anthropologe wollen wir doch in Begrifflichkeiten alles richtig machen. 
Um es einfach zu handhaben, soll deshalb im Folgenden von "Gipsies" die Rede sein; nicht die beste aller Lősungen, aber immerhin war auch das Seminar auf Englisch. 

Wir befassten uns also ein ganzes Semester lang mit Gipsy-Musik. Ein Semester lang haben wir Musik gehőrt, haben wir versucht, hinter die Musik zu gelangen und auf diese Weise einen Zugang zur Kultur dieses Landes zu erhalten.
Nun, im Feld, hat ein jeder von uns eine Aufgabe, ein Spezialgebiet, das er in den nächsten zwőlf Tagen erforschen wird. Es sind Themen, die stets mit Minderheiten und Diskriminierung zusammenhängen, Themen, die aber genau so vor unserem geistigen Auge Folklore und Romantik entstehen lassen, und uns faszinieren.

Doch so romantisch wie wir uns den Auftakt der Exkursion vorstellten, ist es dann doch nicht.
Wir wollten die Entfernung spűren, wollten die Distanz, die wir zurűcklegen, wahrnehmen und die Veränderung der Landschaft beobachten. 
Wir sagten uns ab vom drőgen Flugzeugreisen, das uns so sehr anonym und beliebig erschien und entschieden uns fúr einen Nachtzug, einen Nachtzug nach Budapest.
Doch das einzige, das wir nun spűren, sind die harten Sitze des Liegewagens. Zu sechst sitzen wir in einem recht engen Abteil und die Mőglichkeiten, die uns der Wagen mit seinen Sitzen bietet, kőnnen wir aufgrund unserer langen Beine und unserer Personenzahl nicht nutzen. Schliesslich gelingt es jedem mehr oder weniger, einzuschlafen, den Kopf gegen die Lehne gepresst, die Beine irgendwie angewinkelt, Musik in den Ohren gegen das Drőhnen des Zuges.

Noch bevor der Zug, in dem wir sitzen, den Wiener Westbahnhof erreicht, steht er ganze vier Stunden zwischen Aschaffenburg und Wűrzburg. 
So hatten wir uns unsere Reise nicht vorgestellt, wir hätten zumindest irgendwo in Ősterreich hängen bleiben kőnnen. Hier, so nah an Marburg und so weit von unserem Ziel entfernt, ist uns beinahe so, als mache sich jemand űber uns lustig. Wir versuchen zu schlafen, so als bemerkten wir das nächtliche Intermezzo am Bahnhof von Geműnden nicht, wo wir ganze vier Stunden verbringen. 

Und zu unserer grossen Freude (und Verwunderung) stehen wir tatsächlich wenige Stunden später am Budapester Keleti-pu, am Bahnhof. Fűr die nächste Fahrt im Nachtzug, sind wir bereit 20 € drauf zu legen, - fűr ein bisschen Komfort und Audauer am nächsten Tag.  
Und trotz der Knochen, die wir spűren, sind wir neugierig. 
Neugierig auf dieses Land, auf seine Leute, auf die kommenden zwei Wochen - auf die erste Feldforschung in unserer anthropologischen Laufbahn. 

Tuesday, March 20, 2012

Der kleine Unterschied

Zu Vielem ist der Mensch im 21. Jahrhundert fähig. 
Wale können wir retten. 
Und Atome spalten. 
Wir rasen in Autos über den Globus, andere Menschen fliegen uns hinterher. 
Manchmal sind Einzelne von uns im Orbit unterwegs, schrauben an riesigen Flugobjekten herum, während Satelliten um die Erde kreisen, damit wir mit Hilfe eines Navigationssystems von Butzbach nach Wetzlar finden.
Wir sagen das Wetter voraus und stehen mit Menschen in London, New York, Tokyo oder Buenos Aires in Kontakt, als wohnten sie um die Ecke. Wir können mit ihnen telefonieren, können sie hören, können sie sehen, und wohin wir auch laufen, - wir sind online

So viele Überraschungen der scheinbar grenzenlosen Mobilität hält der Mensch sich selbst bereit, dass die wenigen Dinge der Unmöglichkeit zu phantastischen Träumen führen.
Zu Grübelei. 
Apollo 17: Die Welt will gesehen werden
Und zu Unzufriedenheit. 
 

Das Paradies nämlich, so scheint das menschliche Erlebnisparadoxon, ist immer dort, wo man gerade nicht ist, wo man nicht sein kann. 
Aber auch wenn wir die Zeit noch nicht bereisen können, können wir doch die Welt sehen.
Gut also, dass wir im 21. Jahrhundert den Ort so schnell wechseln können. 

Die Semesterferien sind die studentische Gelegenheit im universitären Jahr, Zeit zu nutzen, Orte zu wechseln und Gelerntes (oder Vermutetes) zu prüfen. 
Im Rahmen einer Exkursion, zum Beispiel. 

Denn man kann weit reisen; und über den Menschen lernen. 
Und man kann tief reisen; und über den Menschen lernen.
Der kleine Unterschied, der unsere Augen größer macht, unsere Fragen keimen lässt und unsere touristische Selbstverständlichkeit, mit der wir den Tag begannen, schrumpfen lässt, treibt uns weiter, treibt uns fort von der Haustür, treibt uns hinaus, treibt uns nach Ungarn.
Ja, nach Ungarn; eine nicht ganz so weite Reise, dafür wird sie tief sein.

Was hinter dieser Reise steckt, wohin sie uns bringt, auf welche Sehnsüchte und Unterschiede wir stoßen, - dies und vieles mehr wird ab April Thema dieses Blogs sein.  

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Bildnachweise: Die Erde gesehen von Apollo 17: www.wikipedia.org

Vom Wünschen

Das menschliche Leben besteht aus vielerlei Dingen.
Es besteht aus Thai-Food, aus Iphones, aus Jetlags und vielleicht aus ECTS-Punkten.
Aus den Lahnwiesen im Sommer und aus oberstädtischem Glatteis im Winter, es besteht aus Hochwasser im Frühling und aus Kastanienigeln im Herbst.
Es besteht aus anderen Menschen, aus Bekanntschaften, aus Enttäuschungen, aus Hoffnungen, aus Bestätigungen. 
Und aus Wünschen.

Aus Wünschen, die uns ein ganzes Leben lang am Leben halten, die uns antreiben, - und manchmal forttreiben.
Wünsche, die wir äußern, und die wir für uns behalten. 
Wünsche, die in Erfüllung gehen.
Und jene, die es nicht tun. 
Wir wünschen unmittelbar oder für lange Zeit, wünschen unüberlegt oder in fiebriger Vernunft.

Der Student, so könnte man vermuten, wünscht sich längere Ferien, wärmeres Wetter und eine Erlenring-Mensa, von der es nur ein paar Schritte bis zum Strand sind.
Dinge also, die er nicht beeinflussen kann, Dinge der Unmöglichkeit, denn Marburg liegt nicht am Meer. 
Deshalb wünscht sich der gemeine Marburger Student vielleicht eher, nach dem Studium der Geisteswissenschaften einen Job zu bekommen. 
Kein Ding der Unmöglichkeit, und doch eine Herausforderung.
Aber auch das wünscht er sich in diesen Tagen nicht.
 
Die wenigsten unserer Wünsche werden Wirklichkeit.
Würde man alle Wünsche, die ein Mensch in seinem Leben äußert, tatsächlich zählen, und würde man diese in erfüllte und unerfüllte Wünsche aufteilen, - so wäre das Ergebnis wohl ernüchternd.
Und doch schreckt es uns nicht ab; es hält uns nicht vom Wünschen ab. 
Auch, wenn wir größer und älter werden; auch, wenn der Satz: "Ich wünsche mir nichts, ich kann mir doch alles selbst kaufen" ab einem gewissen Alter immer häufiger fällt.
Und auch wenn die Statistik uns vermuten lässt, dass auch einige unserer zukünftigen Wünsche nicht erfüllt werden können. 

Der Marburger Student wird sich in diesen Tagen und in kommenden Semestern einiges wünschen; er wird von einer Lehre träumen, die nicht finanziell beschnitten ist, eine Lehre, deren Qualität konstant und hoch ist; eine Lehre, die weder Schauplatz politischer Interessen noch das vergessene Lieblingskind eines Bundeslandes ist.

Der Student wird von der Vergangenheit träumen, vom Wintersemester 2011 / 2012 vielleicht, als die Mittel und die Möglichkeiten einer guten Lehre noch bestanden.

Von Bitterkeit begleitet ist der Gedanke an die Zeit, die nun kommen mag; denn auch wenn es Sommer wird, verschwindet doch gerade jetzt die finanzielle Sicherheit, die das Leben hier so schön machte. 
Der Marburger Student denkt an die Liste erfüllter und unerfüllter Wünsche und fragt sich, in welche Sparte wohl die durch Mittelkürzungen entstandenen Wünsche einer guten Lehre und guter Lehrbedingungen fallen werden. 

Friday, March 16, 2012

Bleibt alles anders

Wenn man die meiste Zeit des Jahres an einem Ort verbringt, kann es passieren, dass die Reise an andere Orte befremdlich scheint.
Befremdlich, denn eher unbewusst hat sich eine kleine Stadt im Herzen Hessens in den Vordergrund meines Daseins gerückt, - und unbewusst oder bewusst ist jede andere Stadt dem direkten Vergleich mit Marburg ausgesetzt.
Seit eineinhalb Jahren wohne ich in Marburg, in einer Universitätsstadt.
Und weil eben das der Fall ist, muss selbst Bochum, eine andere Universitätsstadt, muss Bochum, diese Stadt, aus der ich komme, den direkten Vergleich mit einer sehr viel kleineren Stadt antreten, - und die Tatsache hinnehmen, dass selbst sie, die Heimat, zu einem Stadtstatisten auf meiner Deutschlandkarte geworden ist.

Bochum: Beton, Tauben und Herbert-Knebel-Doppelgänger
Ich komme an einem grauen Sonntag hier an, und die Farbe des Himmels passt wohl zu dem Bild, das die meisten Menschen von einer Stadt im Ruhrgebiet haben.
Im Ruhrgebiet, dem größten urbanen Ballungsraum Europas, sieht alles immer ein bisschen improvisiert, hingekleckst und vergessen aus. Hier wird die Wäsche schwarz anstatt zu trocknen. Hier sehen acht von zehn Menschen wie Herbert Knebel aus.

Dabei ist es hier gar nicht so wie alle denken.
Es ist anders; auch für mich.

In den kommenden Tagen ertappe ich mich selbst dabei, wie ich Entdeckungen mache, mit denen ich nicht gerechnet habe. Das Gefühl stimmt noch immer; doch das Auge sieht etwas anderes.
Nach neunzehn Jahren, die man in ein und derselben Stadt verbracht hat, ist es ein leicht gedachter Gedanke, alles bereits zu kennen. 
Die Stadt aber – und gerade das Ruhrgebiet – ist ständiger Veränderung ausgesetzt.

Einen kleinen Kulturschock habe ich, hier in Bochum, während ich mir bekannten Wegen und Straßen folge, mir bekannte Gesichter treffe und beinahe automatisch einen vergessenen Trott übernehme, der mich in meine Schulzeit zurück versetzt.
Ein Kulturschock, denn alles hier ist größer; alles hier ist flach, ist Beton und Stahl und weiter Himmel und doch grüner als die Erinnerung es erinnerte - und doch anders. 

Das Hessen gewohnte Auge staunt.
Ich hatte nicht erwartet, dass auch hier die Welt sich weiterdreht, dass auch hier die Dinge sich ändern, dass ich mich verändere, - so dass einstige Selbstverständlichkeiten mit einem Male fremd sind.
Und ich wundere mich.
Über die Gegend, aus der ich komme.
Über die Gegend, in der ich nun wohne. 
Über Gewohnheiten und übers Vergessen. 

Und vermutlich ist es nur der Lauf der Zeit, vermutlich ist es ganz normal, sich zu entfernen und zurückzukehren; und doch wird es langsam nicht mehr ganz so einfach, nach Hause zu kommen. 

Thursday, March 8, 2012

Marburg im Frühling


Der Frühling kommt und macht Marburg zur schönsten Stadt der Welt; denn die Idee einer wärmeren Jahreszeit lässt uns frohlocken, lässt uns durch die Ober- und Unterstadt treiben und beinahe haben wir gar nicht mehr gewusst, dass es tatsächlich Zeiten gibt, in denen sich der Nebel lichtet, Zeiten, in denen wir keine Jacken tragen müssen, Zeiten, in denen die Luft nach Veränderung riecht.

Der Frühling steht dieser Stadt so unendlich gut und ist die willkommene Abwechslung eines langen und tiefen Winters. 
Eines langen und tiefen Wintersemester, - das nun vorbei ist. 
Das Wintersemester, mit seinen unzähligen Schrecken in Form von Klausuren, Referaten und frühem Aufstehen zu Zeiten, in denen die Welt um uns noch dunkel war und es schien, dass der Rest von uns noch schlief. 

Wie zu jedem Beginn einer neuen Jahreszeit, scheinen uns die Vorzüge der Vergangenen belanglos. 
Wer möchte Weihnachten feiern, jetzt, wenn alles danach aussieht, grün zu werden. 
Wer möchte Schlittschuh laufen, wenn man auf den Lahnwiesen bereits annähernd in den Genuss einer wärmenden Sonne kommen kann. 
Wer möchte Plätzchen essen, jetzt, wenn man doch genau so gut Eier färben kann. 

Die noch andauernden Ferien sind kürzer als wir dachten; sie enden in den Osterfeiertagen und die liegen bereits in beschaulicher Nähe. 
Doch es stört uns kein Bisschen.
Auch, dass mit dieser wärmeren Zeit ein neues Semester beginnt, schreckt uns nicht ab; ein neues Semester, mit Klausuren, Referaten und Hausarbeiten. 
Mit einer Europameisterschaft und Olympischen Spielen. 
Ein Grill-Semester. 
Ein Semester, das kürzer und schneller vergeht als der lange Winter. 
Ein Semester mit Ferien, die gefühlt ein halbes Jahr dauern. 

Und doch ist dies alles nichts gegen das Hochgefühl der ersten Frühlingstage; nichts gegen die Vorfreude und die Verwunderung, wenn der Mensch aus seinem Winterschlaf erwacht und fest stellt, dass die Welt ihm stets Neues und doch Vertrautes bietet. 

Thursday, March 1, 2012

So richtig in Cappel

oder: Lerne deine Stadt kennen

Der großstädtische Student, den einzig der Wissenserwerb aus der Heimat und nach Marburg trieb, beschwert sich gerne mal über diese kleine Stadt in Hessen.
Über klaustrophobe Gassen und zu wenig Zentrum. Über zu viel außerhalb und zu wenig innerhalb. Über Langeweile und Großstadtgelüste, über Stille und Nachbarsgeflüster.
Der überzeugte Wahlmarburger hingegen, beantwortet all diese empörten Beobachtungen mit einem Lächeln.

Natürlich. Marburg ist nicht groß. Aber das muss es ja auch gar nicht sein.
Neblig ist es hier bei Zeiten und trostlos kann es sein am Bahnhof.
Das ist es aber überall.
Auch in Berlin. Auch in Bochum. Auch in Köln oder Frankfurt.

Und vorsichtig sollte man sein, eine Stadt mit lamentierendem Gesicht als klein zu bezeichnen.
Denn auch eine Stadt wie Marburg kann auf einmal ganz groß werden.

Cappeler Nachtimpressionen:
Es ist dunkel.
Ich war noch nie in Cappel.
Also, so richtig in Cappel.

Am Südbahnhof? Ja.
Im Stadtbüro? Ja. (Dafür gibt es Zeugen)
Im Kult? Ja.
Aber in Cappel?
Nein.

Ich habe eine ungefähre Ahnung, wo dieser Stadtteil liegt. Vom Schloss aus hat man einen guten Blick bis nach Cappel.
In Cappel sieht man das Schloss aber nicht mehr. Das Schloss, von der Oberstadt umgeben wie ein sorgsam gebautes Vogelnest aus Stein und Fachwerk, - es ist weit und weg.
Und es ist dunkel hier.
Die letzte Leuchtreklame, an die ich mich erinner, gehörte zu einem Diskounter.
Zehn Minuten Fahrt seit dem.
Durch Cappel.

Es ist still hier, ruhig und dunkel. Wir verfahren uns, biegen in einsame Straßen ein und wie im Erzgebirge geht es rauf und runter.
Auch hier stehen vereinzelte Fachwerkhäuser, die uns erinnern, dass wir in Marburg sind. Weite Felder liegen direkt neben der Straße.
Wenn die Busfahrer streiken, so wie am Montag, braucht man mit dem Fahrrad eine halbe Stunde bis zum Südviertel. 
Wir sind beeindruckt. Und schweigen. 
Wer denkt, Marburg sei klein, hat Cappel nicht gesehen. 

Wednesday, February 22, 2012

Von Zeit zu Zeit

Der Aschermittwoch ist, ähnlich dem deutschen Sommer, eine Spaßbremse.
Gerade hatte man sich auf komische Art und Weise gewöhnt, ständig daran erinnert zu werden, dass der Mensch vom Affen abstammt, - da hört die tolle Woche schon ruckartig auf.
Vollkommen selbstverständlich waren sich Ritter und Dornröschen in der Biegenstraße begegnet, Löwen, Tiger, Bienchen und Kätzchen trafen sich zur gemeinsamen Balz am Cineplex und Supermärkte verkauften bunt-bemalten Locherinhalt für Geld.
Der Mensch ist ein Komiker; und das in aller Konsequenz.
Denn so schnell alles begann und so sehr bunte Scharaden ohne Zweifel daher kamen, so unverzüglich kommt der Tag, an dem alles endet. 
Asche wird uns auf die Stirn in Form eines Kreuzes gemalt, und dieses Mal ist es keine Verkleidung, sondern ein Bekenntnis. 

Die Zeit des ungestümen Spaßes ist vorbei; ungeschminkt und humorlos nehmen wir alte Identitäten wieder auf, schlüpfen nicht ins Drachenkostüm, sondern in unsere Arbeitskleidung, in das, was uns vertraut ist. Genau so, wie wir in den letzten Tagen auf Kommando fröhlich sein konnten, fallen wir zurück in gewohnte Zustände. 

Der Mensch ist ein Schlitzohr:
er verkauft Schnipsel für Geld.
Die Fastenzeit beginnt; und so manch einer verzichtet nach einer kurzen Zeit der Völlerei und der gelebten Todsünden auf all das, was zuvor doch so gut tat oder schmeckte. Schokolade, Chips, Gummibären, Pudding (und im Falle des Mensapuddings ist dies ein geradezu wahnsinniger Verlust), Fleisch, Fernsehen; alles, was uns vorher davon abhielt, in unserem Planeten einzig einen schweren Gesteinsbrocken zu sehen, der mit etwa 30 km/s durchs All rast. 

Aber Leben heißt  verzichten; und wann verzichten wir schon gerne? 
Der Mensch braucht für viele Dinge eine Zeit. 
An Silvester werden Pläne geschmiedet, die uns zu einem besseren, glücklicheren Menschen machen sollen. An Geburtstagen beginnen, unabhängig vom Kalenderjahr, neue Zeiten für den Jubilar. Jeder Monat bietet eine Neu(er)findung, jeder Montag einen neuen Anfang, - auch wenn es sich selten danach anfühlt. 
Nun, die Fastenzeit; für all diejenigen, die Strukturen brauchen, um sich selbst im Zaun zu halten. Oder für diejenigen, die sich gern zeitlich besinnen; für diejenigen, die durch ihren Glauben zum Verzicht und zur Bestärkung finden. 

Es gibt für alles eine Zeit. 
Aber eigentlich, wenn wir es uns denn eingestehen, - bräuchten wir kein terminliches Kommando; nicht zum Fröhlichsein, nicht zum Verzicht, nicht zu Neubeginnen. 
Aber es lebt sich nun mal leichter. 

Tuesday, February 14, 2012

Und wieder: Leere

Die Semesterferien, - sie sind da.
Sie sind die stark erwartete Konsequenz einer Zeit, die nur mit dem übermäßigen Verzehr von Kaffee und Schokolade zu überleben war. Eine Zeit, in der es so schnell hell und wieder dunkel wurde, dass es beinahe Angst machte. Eine Zeit, in der Schlaf zu knapp und Wissen geballt erschienen. 
Für manche ist diese Zeit noch immer Gegenwart und Zukunft, noch lange nicht Vergangenheit. In den kommenden Wochen haben einige von uns einen Marathon zu absolvieren, der sich wenig malerisch wie eine Serpentine an der Côte d’Azur durchs Semestergebirge schlängelt. 

Diejenigen, die den Prüfungszenit schon überschritten, finden - anders als erwartet - keine paradiesischen Zustände vor sich, sondern kühles Brachland aus Zeit. Und Fragen.
Denn so lange war das Ziel nun schon der Weg, dass es auch nach Erreichen nicht mehr genügt, am Ziel zu sein. 
Mit den Semesterferien ist es wie mit Weihnachten; man hat bereits erlebt, dass es geschah. Und man zweifelt das baldige Erscheinen gar nicht an; aber wenn es dann tatsächlich so weit ist, - fühlt man so vieles. Und doch so erstaunlich wenig.

Wir sind überrascht. 
Denn das ging wirklich schnell. Schneller als wir dachten in den wirklich elenden Momenten unbarmherzigen Lernens.
Wir sind überfordert. 
Denn wir wollen uns angemessen verhalten, wissen aber nichts mit der Zeit anzufangen, sobald sie und wir uns selbst überlassen werden. 

Wir sind enttäuscht.
Denn wir hatten uns so viel vorgestellt, während unsere rauchenden Köpfe über dem internationalen phonetischen Alphabet, über ex- und instrinsischen Zungenmuskeln und Saussure hingen.
Wir hatten uns vorgestellt, was wir mit der Zeit anfangen würden; mit all der Zeit, die wir vor einer Woche noch in fremdbestimmtem Dasein mit anderen Dingen füllten.
Wir sind es gewohnt, Aufgaben zu erfüllen. 
Zeit sinnvoll zu nutzen, ist eine der schwierigsten Aufgaben. 
Und wir stellen sie uns selbst. 

Nun sitzen wir hier. Antriebslos und desillusioniert.
Erschlagen von der Zeit und unserer Ratlosigkeit.

Und wundern uns über unsere eigenen Probleme; über die Wandlungsfähigkeit der Zeit, über unsere eigene Unzufriedenheit, über unsere Wahrnehmung und: darüber, dass wir uns ernsthaft darüber auslassen, dass wir vergaßen, zu genießen, - dabei haben wir doch nun so viel Zeit, es wieder zu erlernen. 
Denn auch die Semesterferien bestehen nur aus Zeit; einem Rohstoff, der sich einfach so mit den Stunden verflüssigt.