Thursday, April 5, 2012

Nachtzug nach Budapest

Budapest-keleti pu
Was der Ethnologe studiert, muss er auch sehen. 
Und was er sieht, muss er verstehen. 
Deshalb studiert er.
Damit Ethnologie und Anthropologie also keine leeren Hűllen sind, theoretische Gebilde ohne Substanz, zieht es uns an diesem Montagabend in die Ferne. 
In die ungarische Ferne. 

Im Rahmen eines Seminars haben wir uns im vergangenen Semester mit ungarischer Musik beschäftigt. Und mit Zigeuner-Musik. 
Und da fängt das Problem an, das wir haben, sobald wir berichten wollen. 
Denn "Zigeuner" ist eines dieser Worte im Deutschen, bei denen wir ein komisches Gefűhl haben, eines dieser Worte, die wir lieber umgehen, die wir lieber irgendwie beschreiben, umschreiben - und doch nicht so genau wissen wie. Nicht alle sind Sinti und Roma, nicht alle bezeichnen sich als solche und gerade als Anthropologe wollen wir doch in Begrifflichkeiten alles richtig machen. 
Um es einfach zu handhaben, soll deshalb im Folgenden von "Gipsies" die Rede sein; nicht die beste aller Lősungen, aber immerhin war auch das Seminar auf Englisch. 

Wir befassten uns also ein ganzes Semester lang mit Gipsy-Musik. Ein Semester lang haben wir Musik gehőrt, haben wir versucht, hinter die Musik zu gelangen und auf diese Weise einen Zugang zur Kultur dieses Landes zu erhalten.
Nun, im Feld, hat ein jeder von uns eine Aufgabe, ein Spezialgebiet, das er in den nächsten zwőlf Tagen erforschen wird. Es sind Themen, die stets mit Minderheiten und Diskriminierung zusammenhängen, Themen, die aber genau so vor unserem geistigen Auge Folklore und Romantik entstehen lassen, und uns faszinieren.

Doch so romantisch wie wir uns den Auftakt der Exkursion vorstellten, ist es dann doch nicht.
Wir wollten die Entfernung spűren, wollten die Distanz, die wir zurűcklegen, wahrnehmen und die Veränderung der Landschaft beobachten. 
Wir sagten uns ab vom drőgen Flugzeugreisen, das uns so sehr anonym und beliebig erschien und entschieden uns fúr einen Nachtzug, einen Nachtzug nach Budapest.
Doch das einzige, das wir nun spűren, sind die harten Sitze des Liegewagens. Zu sechst sitzen wir in einem recht engen Abteil und die Mőglichkeiten, die uns der Wagen mit seinen Sitzen bietet, kőnnen wir aufgrund unserer langen Beine und unserer Personenzahl nicht nutzen. Schliesslich gelingt es jedem mehr oder weniger, einzuschlafen, den Kopf gegen die Lehne gepresst, die Beine irgendwie angewinkelt, Musik in den Ohren gegen das Drőhnen des Zuges.

Noch bevor der Zug, in dem wir sitzen, den Wiener Westbahnhof erreicht, steht er ganze vier Stunden zwischen Aschaffenburg und Wűrzburg. 
So hatten wir uns unsere Reise nicht vorgestellt, wir hätten zumindest irgendwo in Ősterreich hängen bleiben kőnnen. Hier, so nah an Marburg und so weit von unserem Ziel entfernt, ist uns beinahe so, als mache sich jemand űber uns lustig. Wir versuchen zu schlafen, so als bemerkten wir das nächtliche Intermezzo am Bahnhof von Geműnden nicht, wo wir ganze vier Stunden verbringen. 

Und zu unserer grossen Freude (und Verwunderung) stehen wir tatsächlich wenige Stunden später am Budapester Keleti-pu, am Bahnhof. Fűr die nächste Fahrt im Nachtzug, sind wir bereit 20 € drauf zu legen, - fűr ein bisschen Komfort und Audauer am nächsten Tag.  
Und trotz der Knochen, die wir spűren, sind wir neugierig. 
Neugierig auf dieses Land, auf seine Leute, auf die kommenden zwei Wochen - auf die erste Feldforschung in unserer anthropologischen Laufbahn. 

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